Fotografie News - Landesverband Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern

  • 28.11.2022 Hintergrundwissen

    Nadja Ellinger…

    … und ihr fotografischer Blick auf ein Märchen






    Nadja Ellinger beschäftigt sich in ihrer Arbeit „Path of Pins“ mit dem, was eine weibliche Figur in einem Märchen ausmacht. Vor welchen Entscheidungen steht und welchen Weg wählt sie? Es geht um das Erwachsenwerden und das Interagieren dreier Frauenfiguren im Angesicht einer Bedrohung. Ein Kurzkrimi über einen entscheidenden Moment im Leben.

    Das Spezifische an Märchen oder Mythen ist, dass es keine Originalfassungen gibt. Mündliche Erzählungen schaffen und überliefern Wissen und Kenntnisse aus der Vergangenheit. Sie waren von zentraler kultureller Bedeutung als es noch keine schriftlichen Überlieferung gab. Was nicht schriftlich festgehalten werden konnte, ging nicht zwingend verloren, sondern wurde in standardisierter Form beispielsweise als Gedicht weitergegeben. Erzählungen bestanden aus einem Bausatz an Motiven, Figurenkonstellationen und Aktionen, die nach verschiedenen Mustern strukturiert sprich gewebt sind. Damit konnte dem Informationsverlust vorgebeugt werden, gleichzeitig wurden die Inhalte dieser Formate auch immer zeitgenössischen Erfordernissen angepasst. Eine flexible wie fluide Literaturgattung, die langsam ausstirbt.

    Nadja Ellinger kann also gar nicht auf die eine Fassung des Märchens Rotkäppchen zurückgreifen, sondern muss eine Wahl treffen zwischen dem, was verschiedene Akteure wie die Gebrüder Grimm oder Ende des 17. Jahrhunderts Charles Perrault aus dem mündlich überlieferten Stoff in Schriftform gemacht haben.

    Damit thematisiert sie zugleich die Frage der Autorschaft. Oralität bedeutet kollektive Autorschaft im Zeitverlauf. Damit war im Grunde Schluss, als die ersten Schriftfassungen größere Verbreitung und Beliebtheit erlangten. Was von dem Mündlichen übrig blieb, kann heute niemand genau bestimmen. Klar ist jedoch, dass in Märchen zu allen Zeiten grundlegende Fragen und Motive der Menschheit verhandelt wurden und werden.

    Mündliche Erzähltraditionen von Bedeutung finden ein Ende und gehen heute gleichzeitig ein Stück weit verloren. Daran hatten auch die Gebrüder Grimm ihren Anteil. Gerade sie waren genau das Gegenteil von selbstlosen Liebhabern der Märchenstoffe, die von ihnen „nur“ aufgelesen und treuhänderisch verwaltet wurden. Der einleitende Satz ihrer 1812er Märchenausgabe „Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein als möglich wahr aufzufassen… Kein Umstand ist hinzugefügt worden….“ war eine glatte Lüge. Die Wissenschaft ist sich heute einig: Der Erfolg ihrer Ausgabe, die Tatsache dass nach 1812 nahezu in jedem deutschen Haushalt ein Exemplar unter dem Weihnachtsbaum zu finden war, lag an der vollständigen Untreue in der Bearbeitung der vorgefundenen Stoffe.

    Die Gebrüder Grimm waren die Autoren dieser Sammlung, die im Stile des Biedermeier geschönt, romantisch verklärt, sprachlich entschärft, dem Bürgertum als angenehme Unterhaltung präsentiert wurde, die vorgab einen Blick in eine längst vergangene, bessere Zeit zu eröffnen. Es ging darum, bürgerliche Geschmacksvorstellungen zu treffen und das Bedürfnis nach heiler Welt zu befriedigen. Es war ihr literarisches Produkt.

    Charles Perrault bediente sich des Märchenstoffes Rotkäppchen, um eine moralisierende Botschaft zu verkünden. Auch er entschärft den Inhalt der mündlichen Überlieferung und nicht nur die Großmutter stirbt in seiner Fassung sondern auch das kleine Mädchen. Sexuelle Anspielungen sind auf seine didaktische Botschaft gemünzt, die er in einem Gedicht anhängt:

    „Hier sieht man, dass ein jedes Kind und dass die kleinen Mädchen (die schon gar, so hübsch und fein, so wunderbar!) sehr übel tun, wenn sie vertrauensselig sind, und dass es nicht erstaunlich ist, wenn dann ein Wolf so viele frisst. Ich sag ein Wolf, denn alle Wölfe haben beileibe nicht die gleiche Art: Da gibt es welche, die ganz zart, ganz freundlich leise, ohne Böses je zu sagen, gefällig, mild, mit artigem Betragen die jungen Damen scharf ins Auge fassen und ihnen folgen in die Häuser, durch die Gassen doch ach, ein jeder weiss, gerade sie, die zärtlich werben, gerade diese Wölfe locken ins Verderben“

    Märchen wie Rotkäppchen, auch in der Fassung von Charles Perrault, bieten also viel Stoff für eine bildnerische Nacherzählung wie sie von der Fotografin Nadja Ellinger versucht wurde. Märchen sind archetypische Erzählungen, die das kollektive und individuelle Unterbewußte adressieren, wobei wir bei dem Psychologen C.G. Jung wären. Nach ihm erben wir alle Archetypen, die sich in Mythen und Märchen spiegeln. Gespannt darf man sein  auf ihren Vortrag auf der Wintertagung der DFA zu ihrem Projekt „Path of Pins“. Psychologisch anspielungsreich sind die von ihr gewählten Titel der einzelnen Arbeiten der Serie wie „Henkersmädel“ vielleicht nach einem Gedicht von Christian Morgenstern gewählt? Oder Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit. Zielt „The Surrogate“ auf eine Tür ab, durch die unsere Protagonisten im Märchen geht, innerlich wie äußerlich? Und/oder auf den Titel eines Films aus dem Jahre 2020, in dem es um eine Ersatzmutter/Leihmutter geht? Weitere Fragen werden uns dem Wesenskern ihrer spannenden und beziehungsreichen Arbeit näher bringen.

    Christoph Linzbach

    https://dfa.photography/post/2022-dfa-winter-tagung-deichtorhallen-hamburg

    https://nadjaellinger.de