Die Alfred Ehrhardt Stiftung wagt eine Grenzüberschreitung. Sie wagt sich mit der in Berlin lebenden Malerin Herta Müller auf unbekanntes Terrain. Nicht ohne sich bei dem Namensgeber rückzuversichern.
Alfred Ehrhardt ist uns vor allem als Fotograf bekannt, war aber als Künstler breiter aufgestellt. Der Hamburger Kunstverein zeigte 1931 eine Einzelausstellung seiner Gemälde, Zeichnungen und Drucke, die einzige zu Ehrhardts Lebzeiten. 1932 erschien sein Buch „Gestaltungslehre. Die Praxis eines zeitgemässen Kunst- und Werkunterrichts“. Am Bauhaus in Dessau studierte er bei dem deutschen Künstler Josef Albers. Er nahm an Malklassen von Paul Klee und Lyonel Feininger teil und war Hospitant in der Bühnenwerkstatt von Oskar Schlemmer.
Die Grenzüberschreitung der Stiftung ist also keineswegs so gewagt, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Dialog mit dem Werk des Namensgebers, so schreibt die Direktorin der Stiftung Dr. Christiane Stahl, wird erweitert. Sie hat die Ausstellung mit den Arbeiten von Herta Müller kuratiert und das mit erheblichem Erfolg, der sich dem Betrachter und der Betrachterin am besten im Verlauf einer Führung erschließt. Beide kennen einander seit über 30 Jahren und können vielleicht gerade deshalb dem Publikum ein besonderes Erlebnis bieten.
Das Verhältnis von Malerei und Fotografie ist eines der Themen, die verhandelt werden. Die Ausstellung trägt den Titel „Pfadlose Wege: Malerei, Zeichnung, Fotografie.“ Die Fotografie ist wichtig für die Malerin, aber sie versteht sich nicht als künstlerische Fotografin, wie der Titel suggerieren könnte. Die Fotografie ist ein Instrument, eine Erinnerung, ein Memo an etwas Gesehenes, so wie eine Bleistiftskizze. Eigentlich schade, denn die ausgestellten fotografischen Arbeiten, die sie in Berlin gemacht hat, haben eine eigene Qualität.
Herta Müller holt sich ihre Inspirationen in der Toskana. Dort besitzt sie ein Haus. Italien ist viel mehr als nur ein Sehnsuchtsort, auch wenn ihre Bilder in Deutschland entstehen. Italien ist ihre zweite Heimat. Sie saugt das italienische Lebensgefühl und die Atmosphäre in der Toskana jedes Mal in vollem Zug auf, wird zur gestenreichen und sprachmächtigen Italienerin für einige Monate. Sie besucht immer wieder denselben Ort, einen entlegenen Bachlauf dem Ciuffena, der ihr besondere Geräusche, Farben und Lichtstimmungen schenkt. Ein Szenario, das sie aus der Erinnerung in ihre Gemälde übersetzt. Das glucksende Wasser hat sie schon als Kind begleitet und geprägt. Das strahlende Weiß der Felsen sticht aus ihren Ölgemälden hervor, die zwischen gegenständlich und abstrakt zu verorten sind. Sie malt flächig und erzeugt zugleich Tiefe. Ihre von Linien geprägten, technisch aufwendigen Arbeiten vermitteln ein ganz anderen Eindruck, der mich am stärksten an den Titel erinnert. Linien ohne Ziel geschichtet in Ebenen ebenfalls mit beeindruckender Tiefenwirkung. Es ist die Linie, mit der sie ihre Malerei begann. Ein langer Weg, wie sie einräumt, zu der Qualität, mit der sie uns heute beeindruckt.
Der Grenzübertritt der Stiftung ist gelungen. Als Fotograf hoffe ich, dass sie das fotografische Terrain nicht aufgibt und es bei gelegentlichen Exkursionen belässt.