Fotografie News - Landesverband Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern

  • 03.10.2021 Wettbewerbs- und Ausstellungshinweise

    Lehe im Wandel

    Miriam Klingl in Bremerhaven-Lehe





    Schaut auf diese Künstlerin und ihr dokumentarisches Langzeitprojekt über den Stadtteil Lehe in Bremerhaven. Macht Euch mit ihrer anspruchsvollen und ausdrucksstarken Bildsprache vertraut. Saugt ihre einfühlsamen Begleittexten auf, die von den Hoffnungen, Sorgen und Nöten der Bewohner sprechen, die sich ihr geöffnet haben. Miriam Kling kommt dem Leben so nah, wie das im Rahmen eines solchen Projektes nur irgendwie möglich ist. Ruhig, unaufgeregt, ohne zu drapieren bildet sie das ab, was sie sieht und hört. Keine lauten Töne und keine überbordende Symbolik.

    Sie liefert das Gegenstück zur medialen Ausbeutung, die der Ortsteil Lehe  in der Vergangenheit nur allzu oft erfahren hat. Es sind die Auslassungen, Verdrehungen und willkürlich gewählten Blickwinkel auf Sachverhalte, die zur Grundlage tendenziöser Berichterstattung über diesen Stadtteil wurden. Lehe wird zu einem  Ort der Armut, Kriminalität,  gebeutelt von Corona und den Maskenverweigerern gestempelt. Anständige Menschen leben nicht in Lehe so die Botschaft der einschlägigen Medien. Lehe steht für Verfall und Dekadenz schlechthin. Eine ganzer Stadtteil kommt somit unter die Räder eines Journalismus, dem es nicht um Berichterstattung über das Leben geht, sondern um die Konstruktion und Typisierung eines Ort des Schreckens, der die Leser erschaudern lassen und unterhalten soll.

    Ganz anders der Begleittext von Andrea Schridde, der Pastorin und Leiterin der Kulturkirche Bremerhaven, die das Projekt großzügig in vielfältiger Weise unterstützt hat. Sie hat an den vorangegangenen Arbeiten der Miriam Klingl erkannt, dass sich die Künstlerin auf Menschen einläßt, ohne bereits vorgefertigte Typen und Meinungen  im Kopf zu haben, ihr Befinden und ihre Befindlichkeit transparent machen möchte, ohne bloßzustellen. Sie hat damit ein feines Gespür dafür bewiesen, was dieser Stadtteil und seine Menschen brauchen und verdienen.

    Ein Blick auf die Website macht deutlich, dass sich Miriam Klingl vor allem durch Behutsamkeit und Respekt im gesamten Verlauf ihrer Projekte auszeichnet, angefangen von der Planung bis zur Publikation. Hier sind sehenswerte Reportagen zu finden wie „Ihr klaut uns die Zukunft“ und „Kämpferherz“, die anschaulich zeigen, wie nah sie den Menschen kommt. Vertrauen gewinnen, ist die Basis für diese Art der Fotografie und nie das Gegenüber verraten oder denunzieren. Es ist richtig, was Andrea Schridde schreibt: „ "Sie läßt die Menschen selbst zu Wort kommen, statt über sie zu berichten."  Damit ist auch gemeint, dass sie sich unvoreingenommen dem ausliefert und anvertraut, was im Projekt , in den Gesprächen und in den Momenten des Erstellens der fotografischen Porträts auf sie zu kommt. Diese Offenheit spüren und wertschätzen die Menschen. Sie geben Vertrauen zurück.

    Miriam Klingl möchte aber nicht nur über einen Stadtteil und seine Menschen erzählen. Nicht nur über die lebenswerten Orte wie Kneipen, den Zusammenhalt der Bewohner, den Verfall wie die Hoffnung auf Veränderung. Lehe steht für das Leben und für viele Ort in Deutschland. Lehe so schreibt sie in ihrem wunderbaren im Eigenverlag erstellten Bildband für das „Alltägliche, das absurd, melancholisch, unmerkbar, humorvoll, sarkastisch, paradox, theatralisch, exzentrisch - erstaunlich sein kann“ Sie hat damit ein Lehrbuch über die Wahrnehmung des alltäglichen Lebens geschaffen. Sie ermöglicht dem Leser, sich seiner eigenen Wahrnehmung wieder bewußt zu werden und sich als selbstreflektierendes Wesen zu erleben. Deshalb ist der von Miriam Klingl vorgelegte Bildband weit mehr als eine Reportage sondern Kunst, die uns in die Lage versetzt, uns mit unserer Wahrnehmung und dem was sie prägt - im Positiven wie im Negativen - auseinander zu setzen. Damit erdet sie den Leser in diesen reizüberfluteten Zeiten. Sie hält den Medien den Spiegel vor, die das tatsächliche Leben nicht mehr interessiert, weil es für ihre Zwecke nicht verwertbar ist.

    Abschließend darf ich dafür plädieren, nach  Bildbänden wie dem der Miriam Klingl Ausschau zu halten und in den Buchläden danach zu fragen. Statt immer nur auf den Wühltischen nach preisreduzierten „Cappas“ und „Salgado“ zu forschen, die toll sind und immer bleiben aber nichts dazu beitragen, wie Kunst unser alltägliches heutiges Leben und unsere Wahrnehmung  darüber reflektieren kann.

    Das Foto zeigt Michael Biedowicz von der Berliner Galerie pavlov's dog im Gespräch mit Miriam Klingl anläßlich ihrer Buchvorstellung am 01.10.2021. Ein großer Dank geht an den Galeristen, der sich die Förderung solch wunderbarer Künstlerinnen zur Aufgabe gemacht hat.  Wir alle hoffen, dass die Ausstellung über das Projekt "Lehe im Wandel" nicht nur in Lehe selbst, sondern auch in Berlin zu sehen sein wird.

    Christoph Linzbach

    https://www.miriam-klingl.de

    https://www.pavlovsdog.org/